Unaufgeklärte Vorgänge

Jedes ihrer Bilder verdankt seine Entstehung einem langwierigen Herstellungsprozess. Heike Jeschonnek arbeitet mit Paraffin und Öl auf Papier, neuerdings auch auf Leinwand, weil Leinwand sich sanfter mit Wachs verbindet und die Bruchgefahr des sensiblen Oberflächenreliefs dadurch gemindert wird. Selbst wenn man vergröbernd von „Wachsritztechnik“ sprechen könnte, Heike Jeschonnek handhabt ihr Spezialverfahren flexibel. Es ist ein Ausnahmevorgang, der einem zeichnerischen Grundgestus folgt, in dessen Verlauf Einritzungen in erkaltetem Wachs erfolgen, ausgeführt mit spitzen Gegenständen, am liebsten mit Messern und Skalpellen. Die Künstlerin gräbt die Umriss- und Binnenlinien ihrer Bildgegenstände in Wachs und reibt in die entstandenen Spalten handelsübliche Farben ein. Teilweise färbt sie auch das Wachs mit Pigmenten. Um ein Werk entstehen zu lassen, ist ein ständiges Auf- und Abtragen von Wachs nötig.

Jedes Bild wagt und schmeichelt zugleich, ohne sich anzubiedern. Die Motive, die oftmals auf verschlüsselte Weise von existentiellen und Grenzsituationen erzählen, verdanken ihr bildliches Sein einer ausponderierten Praxis, die scharfe Schnitte mit glättenden achspinselüberarbeitungen und sanften Farbfüllungen verbindet. Trotz des deutlichen Hart-Weich-Kontrasts erzeugen diese Bilder einen sanften und transparenten Gesamteindruck. Punktuell setzt die Künstlerin Akzente mit Ölfarbe.

In ihrer diffizilen Balance zwischen Messerhandhabung und Wundverschluss, Stabilität und Zerbrechlichkeit, zwischen Aufgebrachtsein und Melancholie vermögen diese Bilder zu berühren. Je nach Anlage hat ihre Präsenz vielfältige Wirkgrade. Mal speist sie sich aus einem Milchglasscheibendasein, mit dem ganz selbstverständlich alle Nebengeräusche des Alltags übertönt werden, dann wieder lebt ihr Charakter aus präziser Anteilnahme am Zeitgeschehen.

Langsam, auf bedachte Weise holt Heike Jeschonnek Fragen nach Wahrheit, Identität und politischer Relevanz unter dem durchscheinenden Wachsüberzug ihrer Bilder hervor. Wie eine Alltagsethnologin kratzt, schabt und setzt sie frei, was sich an Schmerz, an enttäuschenden Niederlagen, an Zweifeln, aber auch an Empörung unter der Konsumkruste der Gegenwart angestaut hat. Die Übergänge zwischen der Wirklichkeit und dem Geheimnisvollen sind dabei fließend.

Ob es eine vermummte Figur auf einer Teleskopbühne ist (Große Erwartung, 2011), eine Invasion von bizarren Tiefsee-Lebewesen über Istanbul (Zweifel, 2011), Monster-Fliegenpilze hinter Architekturen (Pilz, 2011), Einzelfiguren an „Tatorten“ (2011) oder eine Serie von Bildern, die unter dem Einfluss der Katastrophe von Fukushima entstanden, stets zieht Heike Jeschonnek ihre Bildbetrachter in unaufgeklärte Vorgänge hinein. Dabei treten ihre Bildgestalten in existentiellen Problematiken vor Augen, ohne dass die Künstlerin auch nur einen Millimeter die Künstlichkeit der Kunst in Frage stellen würde.

Ihr Denken und Fühlen ist das Produkt einer postideologischen Zeit, die offensive Glaubensbekenntnisse zumindest als verunsichernd und kollektive Meinungen als gefährlich einzustufen gelernt hat. Schon ihre früheren Architektur-Bilder waren immer mehr „gefühlte Wirklichkeit“ als Dokumentation. Umgekehrt könnte man sagen: Heike Jeschonnek fabuliert auf Tatsachenbasis. Das kann nicht erreicht werden, indem man sich der Übel dieser Welt annimmt und sie lediglich plakativ illustriert. Heike Jeschonnek wählt vielmehr den Weg, die Realität zu überschreiten, in’s Surreale hinüberzuwechseln, dorthin, wo ein Bild mehrschichtig und vieldeutig wird. Jede Wachsschicht ist insofern eine Bedeutungsschicht. Nur so kann der Spagat zwischen Fakten und Phantasie überzeugend gelingen. Von Bild zu Bild wird der Eindruck gewisser, dass Heike Jeschonnek dieses Experiment gelungen ist.

von Christoph Tannert, März 2012
Geschäftsführer Künstlerhaus Bethanien, Berlin