„Ein Raum, der aktiv geworden ist, der blüht, reift, vergeht. (…) Ein richtig verstandener Raum umfasst ein großes Spiel von Öffnungen, Zirkulationen, Wechselbeziehungen und Durchdringungen.“
André Masson, „Abschweifungen über den Raum“
Zweifelsfrei: Heike Jeschonneks Bildwelt stellt Fragen nach „Verortung“. Nach Verortung der Welt, des Individuums, der eigenen künstlerischen Position. So nimmt es nicht Wunder, dass die zeitgenössische Künstlerin Bildräume und Raumordnungen zu Schauöffnungen und Schauplätzen für Existentielles komponiert. Doch wie sie diese als Parallelwelten und empfindliche Seelenlandschaften erscheinen lässt, als Grenzräume und Grenzen für Grenzsituationen, als aktive Tiefen und Tiefenräume, macht staunen! Eine Kunst, die den Betrachter in den Bann zieht, weil sich in Jeschonneks markantem Spiel mit Vorder- und Hintergründen und mehrschichtigen Bildebenen auf ganz eigene, signifikante Weise Überlagerung, Durchdringung und Freilegung substantiellen Raum verschaffen.
Konsequenterweise fußt dieses inhaltliche Raumsuchen und In-Frage-Stellen von Standpunkten im Fluss der eigenen Geschichte und eines aktuellen Zeitgeschehens auf ihrer zur Meisterschaft gebrachten, zeichnerisch anmutenden Wachsritztechnik: ein diffiziles und delikates Arbeiten mit Paraffin und Öl auf Papier oder Leinwand. Im Entstehungsprozess ihrer Arbeiten trägt Jeschonnek also Wachs auf und ab. In ständiger Wiederholung. Mit ausgeklügelter Systematik. Ihr Bildgeschehen, die vielen menschlichen Verletztheiten und Verletzlichkeiten, ritzt sie messerscharf in das erkaltete Material, wobei sie den Flächen minutiös detaillierte, kleinteilig florale Muster und Mosaike einschreibt. Dann verbindet, verschließt sie ihre Schnitte und deren partiell zugefügte, farbige Pigmentierungen mit einem alles glättenden, sanften Wachspinselauftrag. Dieser lässt einen weißen, nebulös-transparenten Bildeindruck aufscheinen – trotz des dem Kunstwerk deutlich inhärenten Hart-Weich-Kontrastes.
Mit dieser Technik hat die Künstlerin sichtlich ihr ganz eigenes Medium gefunden, nicht ohne zudem eine unverkennbare, im wahrsten Wortsinn fabelhafte, zeitgemäße Chiffrenschrift perfektioniert zu haben. Ein märchenhaftes „Fabulieren auf Tatsachenbasis“, wie Christoph Tannert treffsicher konstatiert. Eine zeitgenössische Zeitkritik, die harte Fakten, Verdruss und Skepsis ins Surreale überhöht, verfremdet und so oftmals Unaussprechliches und Unausgesprochenes aus tiefen, verborgenen Schichten freilegt. Schonungslos und doch abgemildert. So gehen Erzählstoff und Textur Hand in Hand. Es ist dies ein quasi „poetisches“ Malen, welches ein zwangsläufig paralleles Miteinander von Erzählebenen und Schichtenstruktur frappierend augenscheinlich macht.
Es lohnt, in medias res zu gehen: In ihrer Arbeit „1Q84“ rekurriert Heike Jeschonnek auf den gleichnamigen Roman des japanischen Autors Haruki Murakami, rückt dessen Inszenierung von Parallelwelten in ihren eigenen künstlerischen Fokus. Mit einem einzigen Blick setzt uns die Malerin in ein mehrspuriges, schauriges Bilderleben, dessen Wechsel von einer Welt in die andere zwei schemenhafte Monde im oberen Bildfeld ankündigen. Der vierzonige Bildaufbau führt plakativ Synchronizität vor Augen. Indem die Künstlerin den Betrachterblick gleichzeitig vom Himmel über einer Berlin-Skyline samt Oberbaum-Brücke über die lückenlos schwarze Spree (lesbar als mythologischer Trennungsfluss „Styx“ zwischen Ober- und Unterwelt), hin zum unheilschwangeren Geschehen im Bildvordergrund lenkt. Der topografisch authentische Schauplatz eines Jugendtreffs und einer Partyszene mit Badeschiffen, Clubs und trendigen Beachzonen ist ins Grotesk-Märchenhafte transformiert: Wölfe zerfleischen ein Mädchen, während andere Figuren unbeteiligt und entspannt ihren Badefreuden frönen. Hier achtet keiner auf den anderen – im von sonderbaren Gewächsen durchzogenen, nur vermeintlich idyllischen Seerosenteich.
Überhaupt spielt die grundsätzliche Begegnung von Mensch und Tier in Heike Jeschonneks Werk eine gewichtige Rolle. Ob in Arbeiten wie „Hommage an Wolfgang Tillmann‘s“, „gestrandet“ oder in jüngsten Wachsbildern, die sich auf Joseph Beuys‘ berühmte Aktion mit einem Kojoten beziehen – immer thematisieren diese Werkgruppen eine äußerst fragwürdige Zwiesprache zwischen Mensch und Tier. Gerade auch diese bedenklichen Domestizierungsversuche bettet sie in fantastische Umräume, die ihrerseits der Verortung der Akteure misstrauen. So sieht sich der Betrachter mit sinnstiftenden Raumdurchbrüchen konfrontiert. Blumige Kachelornamente, auf denen der Beuys ‘sche Kojote nur zu schweben scheint, ranken in wildem Wuchs aus einem ungewissen Bildhintergrund. Eine „Gänseflüsterin“ kniet vor dem Beckenrand einer künstlichen Wasseroberfläche. Und wir erkennen die hier gebaute zivilisatorische Verkrustung anstelle eines freiheitlich gewünschten Entwicklungsraums.
Und – wir erleben, wie zeitgenössische Kunst den alten traditionellen Richtungssinn von Bildtiefen als eigenes erzählendes Medium nutzt: Denn der Versuch, mit einem Hund Schnaps zu trinken („Herr Lehmann“), führt im hallenartigen Handlungsüberbau über einen schier endlosen, steinigen Boden schlicht ins zentralperspektivische Nichts.
Aufschlussreich, im kompositorisch angelegten Bildganzen bleibt immer wieder der maßgebliche Anteil des Bildbetrachters, dessen „Kunstsehen“ Heike Jeschonnek fordert und schult. Denn mit dieser Figuren-Gegenüberstellung dämmert die Erinnerung an bildparallele Verkündigungsszenen des Quattrocento herauf und zwingt suggestiv zu einer eindeutigen Lesart: Exakt an der eigentlich unsichtbaren Stelle, an der sich Sehachse und bildparallel gestalteter Kommunikationsversuch kreuzen, wird das Unsagbare gesagt.
Immer wieder versetzt uns Jeschonnek mit ihren Figuren in solche Innenwelten und vor bühnenartige Schaukästen, wobei wir stets Zeugen von Identitäts- und Standortfragen bleiben. Dabei platziert die Künstlerin ihr Figurenarsenal bewusst an die Bildränder, um den Tiefenräumen selbst Agitationsflächen zu verschaffen. Diese werden zu aktiven Tiefen, weil sie Ausgänge bieten, Wege ebnen, neue Perspektiven aufzeigen.
Dort, wo sie dies nicht tun, bleiben die Wände verschlossen. Gibt es kein Entrinnen. Kreist man im Strudel der Ornamentik um sich selbst. Signifikant hier: Der unsichere Halt der Figuren auf und über den stets kleinteilig durchkomponierten Mosaik-Böden. Immer hat sie die Künstlerin bewusst formal nicht richtig eingebettet, nicht standfest verbunden.
Eine solch‘ vage Verortung strukturiert auch jene Werke, die thematisieren, wie sich Natur ihren ureigenen Bereich zurückerobert. Der Bildbetrachter wird mit den Figuren gewahr, welche unsicheren Wege man oftmals balancierend beschreitet („gehen“), wo man seinen Standpunkt und Platz sucht, aber nicht zwangsläufig findet („Mädchen 4“). Dazu komponiert Jeschonnek ihre Erzählwelten oftmals als Landschaften und Architekturen mit löchrigem Grund. Nicht zuletzt, weil sich die Erde auftut („von Jägern und Sammlern“), Menschen in Löchern im Boden versinken, sich die Pflanzenwelt punktuell ihre Bahn durch den Asphalt bricht („Einstürzende Neubauten“). Lesbar sind diese ovalen Öffnungen auch als temporär schwimmende Inseln. Mitunter sogar als Zeitschleusen, die Fragen nach einstiger Idylle und Gegenwart heraufbeschwören. Dabei verwandeln sich ihre Szenerien in Seelenlandschaften, weil die Künstlerin mit einem fulminanten Hin- und Heroszillieren von Innen- und Außenwelten hantiert.
Jeschonneks Kunst scheint damit bewusst als inhaltliche und formale Spurensuche angelegt. Als mehr- und tiefenschichtiges Erahnen und Erinnern, Ertasten und Erspüren, Suchen und Finden. Was sie zudem mühelos über ihre bemerkenswerten Jagdszenen und eine bedrohliche Alltagskriminalistik transportiert. Auch diese bleiben rätselhaft, verunsichernd, unaufgeklärt. Das Figurenarsenal, explizit jener „Tatorte“, hat sich verirrt und ist verloren im undurchsichtigen Dickicht märchenhaft nebulöser Gedankenwälder. Es lauert, jagt, ruft im Schatten seiner Selbst. Spannend dabei: Die vordergründigen Akteure wirken erstarrt. Zugunsten einer substantiellen Narrativierung der Räume dahinter. Jeschonneks ungeheuerlich feingliedriger, ziselierter, vom kleinteiligen Blattwerk verdichteter Natur- und Bildraum „Wald“ berichtet ganz en passant vom künstlerischen Nebeneinander zum Ineinander. Von der progressiven Verkleinerung der Strukturgebung, Textur und Musterung hin zu deren Vereinheitlichung und schemenhaften Entmaterialisierung in leere, luzid-weiße Bildpartien. So fungieren ihre Bilderzählungen und malerischen Räume als fabelhafte Vergrößerung, nicht zuletzt ihres kritischen, selbstreflexiven künstlerischen Potentials.
In diesen Kontext ist final eine augenscheinliche Verselbständigung der Gegenstände zu setzen. So werden in ihren Werkreihen „Mädchen“ und „Kapitulation“, welche unter dem Eindruck der Katastrophe von Fukushima und Castortransporten entstanden sind, Pilze als Bildversatzstücke von Männern in Sicherheitskleidung entsorgt oder als zum Himmel schreiende Sprachrohre eingesetzt. In Jeschonneks aktuellen Arbeiten verdichtet sich diese Entwicklung: Es sind konkret die Muster der Mosaike, der eigentliche Boden, der sich freimacht von seinem strukturgebenden, formalen Gerüst. Daher sprudeln unzählige Farbpigmente aus einem Frauenmund und fließen in loser Ordnung auf den Boden. Exakt deshalb schütten zwei Frauen eine Farbpigment-Flut aus Eimern ins noch unfertige, nur angedeutete Bild- und Raumgerüst.
Dr. Melanie Klier, August 2013
Klartext Kunst, München