Zwielicht

Unschärfe, Zartheit, verborgene, überdeckte Zeichnungen, die sich dem Betrachter entziehen, ihn anlocken, Bildobjekte aus einem nicht näher definierbaren Umfeld auftauchen lassen. Die Arbeiten der Berliner Künstlerin Heike Jeschonnek sind vielschichtig im wahrsten Sinne des Wortes. Dem Vorgang des Erinnerns gleich, zeichnen die Oberflächen ihrer Arbeiten eine Spurensuche nach. Die Künstlerin schichtet Paraffin auf Papier und kratzt Zeichnungen von Figuren, Architekturen oder Landschaften hinein.

Die durch das Ritzen beigebrachte Verletzung der Oberfläche wird durch einen weiteren Paraffinüberzug geheilt, geglättet, aber ähnlich wie bei einer Tätowierung bleiben die zuvor mit Farben gefüllten Furchen als sichtbare Narben zurück, die sich zu einem Bild fügen. Dabei bleibt
die Farbigkeit meist sehr sparsam, die Konzentration liegt auf der Linienführung der Zeichnung, die in einigen Fällen coloriert wird, in anderen Fällen bedient sich die Künstlerin eingefärbtem Wachs.

Was zunächst simpel klingt, entwickelt sich mit den einzelnen Schichtungen zu einer filigranen, poetischen, faszinierenden Wirkung. Die Oberfläche der Arbeiten hält den Betrachter auf Distanz, lässt eine Ahnung auf das Motiv zu, welches uns gleichsam wie durch Nebel verschleiert erscheint und dazu aufruft, näher hinzuschauen. Das Material entwickelt hier seine ganz eigene Gesetzmäßigkeit, die die Sehgewohnheiten des Betrachters in Frage stellt und seine Wahrnehmung ständig in der Ambivalenz zwischen Nähe und Distanz, Schärfe und
Unschärfe, Fassbarem und nicht zu Greifendem, Dauerhaftem und Vergänglichem schweben lässt. Die Eindeutigkeit des Sehens wird durch Brüche, Überlappungen, Unschärfen und Verschiebungen in Frage gestellt.

Jeschonnek thematisiert das Spannungsfeld von Subjekt, Objekt und Umraum, indem sie Räume oder Architekturen aus der Erinnerung visualisiert und mit diesen Bruchstücken neue Bildräume entwirft, in denen sich Subjekte zu behaupten suchen. Instabilität und Ungewissheit durchzieht diese Räume, die Subjekte in ihnen wirken isoliert und verunsichert, ihre Identität wird in Frage gestellt. Oft sind es beinahe banale lltagsszenen, die durch die Arbeitsweise der Künstlerin einen gleichsam poetischen Überzug bekommen. Entrücktheit trifft hier auf Bodenständigkeit. Dabei dient die Wachsschicht als ein Mittel der Überdeckung, des Ausblendens der Umgebung, die Künstlerin lässt einzelne Elemente hervortreten. Zum Werkstoff Paraffin kam Jeschonnek durch Experimente, in ihrem Bestreben, der Zeichnung eine neue Dimension zu verleihen. Die Empfindlichkeit der Arbeiten, die durch das in trockenem Zustand brüchige Material Paraffin entsteht, wird zum Sinnbild für die Verletzlichkeit von Subjekt und Objekt, selbst der Umraum bröckelt und bricht.

In ihren frühen Arbeiten setzte sich Heike Jeschonnek mit bekannten Berliner Bauwerken, Stadtlandschaften und Innenräumen auseinander. Der Mensch tauchte nur selten und in einer gewissen Isolation auf, kaum in zwischenmenschlicher Kommunikation, meist auf sich allein gestellt in einer sonst menschenfeindlich wirkenden, teils fast bedrohlichen Umgebung einer Stadt. Ihre jüngsten Arbeiten mit Reiseeindrücken aus Asien
und Afrika hingegen beziehen mit narrativen Elementen ein ganz neues Spannungsfeld ein.

Die Asien-Bilder erinnern an die traditionelle Darstellungsweise fernöstlicher Landschaften: aus Nebelfeldern und nicht näher definierten, hellen Bildflächen materialisieren sich Figuren und Landschaftsfragmente. Andere Arbeiten hingegen zeigen den Mensch im Mittelpunkt bei alltäglichen Verrichtungen wie dem Wasserholen oder beim Transport von Gegenständen mit Booten. Fein ziehen sich die Linien der Zeichnung durch das Bild, verschwinden fast in dem blassen, beinahe farblosen Hintergrund.

Die Afrikabilder zeigen teils konkrete Motive, die jedoch auf surreale Weise ein Rätsel bleiben: Figuren laufen auf großen Bällen durch die Landschaft, Feldarbeiterinnen drohen, in einem Meer zu versinken, die Decke eines Raumes scheint auf nicht definierbarem Untergrund zu schwimmen. Ebenso wie die unscharfe Zeichnung der Figuren bleibt auch das Bildthema im Ungenauen. Diese Eindrücke aus uns fremden Kulturkreisen rufen eine vergessen geglaubte Vergangenheit hervor, die anderswo noch Gegenwart ist. So schlägt die Künstlerin einen Bogen um Raum und Zeit.

Heike Jeschonnek ist auf der Suche nach der Erinnerung, versucht, in ihren Arbeiten festzuhalten, was nur für kurze Zeit existierte. In den Worten der Berliner Kunsthistorikerin Angelika Sommer versucht sie, „das Verdämmern von Erinnerungen und flüchtigen Eindrücken in einem Zeitkatalysator zusammenzuführen. Das ist der Augenblick, wo sich neue Erkenntnisse einstellen über das Sein hinter der Oberfläche.

Diesem Ansinnen nähert sie sich durch die Symbiose von Motiv und Material. Die sinnliche Wirkung des Paraffins lässt die Zeichnungen fragil und wage wirken. So werden sie zum Ausdruck der dauernden Suche nach verblassenden Erinnerungen.

von Dr. Mayarí Granados, März 2010
Kunsthistorikerin, Landesverband Lippe